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Koloniale Objekttransfers und Indigene Agency

Organisatoren: Sammlung Kulturen der Welt (bis 28. März 2024 „Völkerkundesammlung“) Lübeck und Zentrum für Kulturwissenschaftliche Forschung Lübeck (ZKFL) in Kooperation mit dem Deutschen Zentrum Kulturgutverluste  

Veranstaltungsort:
Zentrum für Kulturwissenschaftliche Forschung Lübeck (ZKFL), Königstraße 42,
PLZ: 23552
Ort: Lübeck
Land: Deutschland
Fand statt: In Präsenz
Vom: 25.03.2024 bis 26.03.2024

Von KARIN LUBOWSKI, Journalistin, Lübeck

Spätestens seit das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste die Forschung zu Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten fördert und sich die Kultusministerkonferenz ebenfalls 2019 zu einer Auseinandersetzung mit kolonialer Vergangenheit bekennt, gehört es auch zum Selbstverständnis von Ethnologen, die Provenienz von Objekten aus entsprechenden Kontexten zu erforschen. Im Fokus steht dabei zumeist die Frage, ob es sich um Raubgut handelt und wenn, ob und wie dieses zurückgegeben werden kann. Doch neben geraubten und mit unredlichen Mitteln erworbenen Artefakten finden sich in den Sammlungen auch Auftragsarbeiten, Geschenke, Fälschungen. „Das Spektrum an Formen, in denen Kulturgüter in kolonialen Netzwerken produziert wurden und zirkulierten, ist weitaus komplexer und oftmals widersprüchlich“, sagt Dr. Lars Frühsorge (Sammlung Kulturen der Welt, Lübeck). Die Lübecker Tagung fragt nach den Motiven der Produzenten. Was wurde wie für wen hergestellt und warum? Bislang wird dieses Forschungsfeld nur zögerlich beschritten, vor allem aus Sorge, dass dieser Blickwinkel dazu beiträgt, koloniales Unrecht zu verharmlosen. Aber, so Frühsorge, „indem wir die Rolle der Indigenen in den Objekttransfers ignorieren, laufen wir Gefahr, ihnen ihre Rolle als historische Akteur:innen abzusprechen, sie als vermeintlich naive, willen- und wehrlose Opfer abzutun und befeuern damit letztlich nur europäische Überlegenheitsfantasien.“

Objektproduktion als Widerstand gegen europäische Sammelwut – Objektproduktion als subalterne Strategie, um zumindest marginal von der eigentlich zur europäischen Herrschaftssicherung und Ausbeutung geschaffenen Infrastruktur ökonomisch zu profitieren – Objektproduktion, um traditionelles Wissen zu bewahren: In Lübeck beleuchteten 22 Expert:innen die Indigene Agency aus unterschiedlichen Blickwinkeln.

Anerkennung der historischen Komplexität, Entkräftung europäischer Allmachtsfantasien, Kolonisierte als Akteure ihrer eigenen Geschichte sichtbar machen, indigene kulturelle Perspektiven anerkennen – das sind Ziele, die LARS FRÜHSORGE für die Lübecker Sammlung Kulturen der Welt gesteckt hat und formuliert auf dem Weg dorthin als Herausforderung u.a. die Dominanz westlicher Ideen von Eigentum, Handel, Copyright, Sakralität. Kolonialismus sei nicht als abgeschlossene historische Epoche zu denken und Dekolonisation als mehr als nur Rückgabe. Es gelte, den Eurozentrismus in der Restitutionsdebatte zu überwinden und das komplexe Geflecht von Beziehungen in die Forschung zu integrieren, die – neben Raub – ein ab Mitte des 19. Jahrhunderts weltumspannendes Handelsnetzwerk beinhalten, in dem Einheimische eine durchaus aktive Rolle spielen. In der Lübecker Sammlung findet sich etwa unbenutztes Neuwertiges, vor dem Verkauf entweihte Ritualgegenstände, Fälschungen, frühes, gezielt für europäischen Geschmack produziertes Kunsthandwerk.

 

Wem gehört was, wer bestimmt den Wert der Objekte und Dinge, welche Interessen liegen zugrunde? BRIGITTA HAUSER-SCHÄUBLIN geht dem Eigentumsbegriff in der Provenienzforschung nach, der europäischen Ursprungs sei und ein zentrales Element kapitalistischer Gesellschaften darstelle. „Das Interesse an Provenienz – sowohl Nazi-Raubkunst, als auch Dinge, die im kolonialen Kontext erworben wurden – betrifft fast ausschließlich monetär wertvolle Dinge, solche, die auf dem Kunstmarkt einen entsprechenden Preis erzielen“, lautet eine ihrer Thesen. Sie zitiert aus dem Leitfaden Provenienzforschung des Deutschen Zentrums Kulturgutverluste: „Wenn hier vom Entzug von Kulturgütern die Rede ist, so geht es um ein weites Spektrum, von Gemälden über Grafiken und Bücher, über Münzen und Porzellane bis hin zu Silberbestecken.“ Eine kritische Auseinandersetzung mit diesem Eigentumsbegriff fehle bis jetzt weitgehend. Als Alternative zum politisch opportunen Eigentumsbegriff beschreibt die Referentin den wissenschaftlich ethnologischen Zugang der Eigentumsbeziehungen, die sich in Objekten bündeln sowie die damit verbundenen Vorstellungen und Rechte unterschiedlicher Akteure in den Vordergrund stellt.

 

Keulen aus Fiji, polinesische Bonitohaken, mikronesische Panzer aus Kokosfaser, Zeremonialpaddel der Austral-Inseln: HILKE THODE-ARORA untersucht Objekte aus Ozeanien, von denen einige Kategorien in außergewöhnlicher Vielzahl in westlichen Museen vertreten sind. Oftmals sind diese zudem mit Narrativen („kriegerische Kulturen“, „Ehrung von Europäern durch wertvolle Geschenke“) verknüpft, die ihre Attraktivität für Sammler zu erhöhen vermögen. In ihrem Beitrag stellt sie Stücke vor, die eher Fragen aufwerfen als klare Zuschreibungen erlauben. Genauer betrachtet, gibt es Zweifel an der Authentizität, denn sie stammen etwa aus anderen als ihren vermeintlichen regionalen Zusammenhängen, wurden nie benutzt, sind für ihren vorgeblichen Zweck ungeeignet. Letzteres gilt für Hilke Thode-Arora insbesondere für die Bonitohaken: „Mit den meisten könnte man gar nicht angeln“, sagt sie. Die vorgestellten Beispiele seien Hinweise auf indigene Agency, die geschickt europäische Nachfrage bedient. „Die Erkenntnis, dass Europäer den – aus pazifischer Sicht – wahren Wert bestimmter Objekte nicht zu schätzen wussten, konnte dazu führen, ihnen Wertloseres zu geben, ohne dass sie dies erkannten.“

 

Kulturelle Kontakte sind auch Religionskontakte. Wie diese sich methapherngeleitet im Bild vollziehen, geht es im Beitrag von PATRICK FELIX KRÜGER und KNUT MARTIN STÜNKEL, der sich unter der These „Es gibt keine authentische Religion. Religion ist ein Kontaktphänomen“ entfaltet. Exemplarisch zeigen sie dies an Malereien der wenig bekannten, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von jesuitischen Missionaren begründeten Malschule „Ars Sacra Pekinensis“ vor. Einheimische Künstler verbanden hier chinesische Maltraditionen mit christlichen Themen. Später greifen europäische Missionare die Malweise auf und treten als Urheber „chinesischer“ Bilder hervor. Anhand ausgewählter Darstellungen der Künstlergruppe steht eine theoretische Modellierung von Religionskontakten im Objekt zur Debatte.

 

„Wir glauben immer, wir dürfen alles sehen und alles wissen“, stellt CLAUDIA AUGUSTAT für die eurozentrierte Forschung fest, aber „Kulturen respektieren heißt auch, Grenzen anzuerkennen.“ Vor diesem Hintergrund beschreibt sie die Präsenz ritueller Musikinstrumente in der südamerikanischen Sammlung des Weltmuseums Wien als „bemerkenswert, vielleicht sogar verstörend“. Die genannten Objekte gelten als bedeutendster Besitz einer Gemeinschaft, sie sind heilig, ihre Bedeutung wird durch Geheimhaltung vor Uneingeweihten und Frauen hervorgehoben und gestärkt, sie sind unveräußerlich. Augustat diskutiert die Frage der Transformation in eine Ware, die mit der Übergabe der Instrumente an die Sammler verbunden ist, und fokussiert insbesondere auf die indigenen Akteure als diejenigen, die Lösungen für Übergaben von sakralen Objekten finden.

 

Die Vielschichtigkeit der Beziehungen zwischen meist europäischen Sammlern und den Navajo dokumentiert RAINER HATOUM am Beispiel eines Medizinbündel des Heilers Benet Toehe. 1974 erwirbt der Künstler Horst Antes in den USA das 205 Teile umfassende Medizinbündel, katalogisiert es und verpackt die Bestandteile in Dosen und diese in Aluminiumkoffer, wodurch ein ursprünglich wirkkräftiges Zeremonialobjekt „entschärft“, weil in einen Gegenstand von westlichem Interesse verwandelt wird. Zugleich ist das Medizinbündel vor dem Zugriff radikaler christlicher Sekten gerettet. Für den europäischen Markt verwandelt und dadurch erhalten sind auch Ritualgesänge, die Vertreter der Navajo beispielsweise in eine andere Reihenfolge bringen, ehe diese auf Walzen aufgenommen werden.

 

„Es lohnt der zweite Blick“, ist das Fazit von CLAUDIA KALKA, die am Beispiel von Objekten aus der Sammlung barocker Kunst aus Ecuador und Peru im Museum Worms sowie eines Stuhllehnenbezugs der kanadischen Huron-Wendat aus der Lübecker Sammlung Kulturen der Welt dokumentiert sieht, wie indigene Kunstschaffende in christlicher Ikonografie Botschaften ihrer Kultur verstecken und somit Wissen darüber erhalten. Der zweite Blick ergibt z.B., dass die Blumen, die die Darstellung eines Heiligen Christopherus aus dem 17. Jahrhundert umgeben, nicht bloß Zierrat, sondern für die Indigenen ein Zeichen des kosmischen Gleichgewichts zwischen Chaos und Ordnung sind und Vögel Vermittler zwischen unterer und oberer Welt; der Jesusknabe trägt eine stilisierte Inkakrone. Kultureller Widerstand oder kulturelle Verschmelzung? Die Referentin stellt die Frage zur Diskussion.

 

Selektion per Sammeln und Herausgeben untersucht LEONIE MAURER und führt aus, dass nicht nur kulturelle Institutionen und Sammler:innen vor Ort per Auswahl bestimmen, welche Objekte für Museen angeeignet werden. In einer von asymmetrischen Macht- und Herrschaftsverhältnissen geprägten kolonialen Situation loten Gemeinschaften ihre Handlungsspielräume aus und beeinflussen die Zirkulation von Objekten. Die gewebten vavara-malangan, deren Bildrechte als unveräußerlich und deren Energie als potentiell gefährlich gilt, gelangen nur in wenigen Einzelfällen in Museumssammlungen. So berichtet die Anthropologin Elisabeth Krämer-Bannow 1916 über die gescheiterten Versuche ihres Mannes Augustin Krämers, vavara käuflich zu erwerben. Gleiches gilt für malangan-Schnitzereien im zeremoniellen Kontext. Unter der Überschrift „Eine Rundfahrt im Bismarck-Archipel“ schreibt August Frings 1904 für die „Deutsche Kolonialzeitung“: „Ich sah u.a. ein Eingeborenen ,Malagen‘-Haus (…) die zum Teil sehr schön und grotesk geschnitzt waren, und zum Teil, was ich aber noch bezweifle, zum Ahnenkultus bzw. Götzendienst dienen sollten. Leider gelang es mir nicht trotz Anerbietung sehr hoher Bezahlung die Sachen zu erhalten.“

 

„Die ethnologische Sammelwut hat sich epidemisch in unseren Südsee-Kolonien ausgebreitet, und vom Gouverneur bis zum Koprahändler raffen alle, was zu ergattern ist, zusammen“, schreibt der Ethnologe Augustin Krämer 1908 in der Zeitschrift „Globus“. Objekte dieser Begierden sind u.a. menschliche Schädel. BETTINA VON BRISKORN hat im Übersee-Museum Bremen die Provenienz von 130 Schädeln untersucht, die aus dem heutigen Papua-Neuguinea stammen. Im „Deutsch-Neuguinea“ des 19. sowie frühen 20. Jahrhundert waren Schädel in Alltag der Menschen präsenter als in anderen Regionen und für Sammler vielfach offenbar auch leichter erreichbar. Es gibt Hinweise auf Tauschgeschäfte, etwa wenn die menschlichen Überreste ihre Bedeutung für die Nachfahren verloren hatten; es gibt auch westliche Vermutungen, dass es auch zu Mord und Grabraub gekommen sei, um z.B. übermodellierte Schädel für den „Markt“ zu produzieren.

 

Großzügigkeit oder Zwangsallianz oder Diplomatie? ILJA LABISCHINSKI befragt das Motiv eines indigenen Gebers: Der Herrscher von Kpando (in der Volta-Region des heutigen Ghana, früher Teil der deutschen Kolonie Togo), Togbe Nyavor Dagadu II, unterstützt im März 1895 einen deutschen Kriegszug gegen die Bewohner von Tové in der damaligen Kolonie Togo. In diesem Kontext gelangt der deutsche Leiter des Kriegszuges, Ernst Baumann, in den Besitz von zwei Trommeln und einem Horn, königlichen Insignien des Herrschers von Kpando. Ilja Labischinski fokussiert auf die von politischen und sozialen Dynamiken beeinflusste Beziehung zwischen Dagadu und Baumann. Letzterer will 80 Mark für die Objekte gezahlt haben und führt die Freundschaft zu Dagadu an. Dieser wiederum gilt als geschickter Verhandler zwischen britischen und deutschen Kolonialherren, ist ein handlungsmächtiger Akteur. Wie freiwillig ist die Übergabe seiner königlichen Insignien im kolonialen Gewaltkontext?

 

Mit von Julius Carlebach vermittelten Judaica widmet sich SÖREN GROSS sowohl einer besonderen Objektkategorie als auch besonderen Motiven des Kunsthändlers. 1909 als Angehöriger der bedeutenden Rabbinerdynastie Carlebach in Lübeck geboren, studiert Julius Carlebach Volkskunde und Kunstgeschichte und entscheidet sich früh, „kein Kunsthändler im gewöhnlichen Sinne, sondern im jüdischen Interesse“ zu werden. Bereits im Alter von 22 Jahren nimmt er Kontakt zu Völkerkundemuseen, Sammlern sowie jüdischen Gemeinden auf und verfügt über Listen jüdischer Logenbrüder der internationalen Vereinigung B´nai B’rith, die bereit sind, ihn bei seinem Vorhaben zu unterstützen. Carlebach knüpft Verbindungen bis nach Palästina, Tunis, Marokko sowie in entfernte Regionen der heutigen Ukraine. Er erarbeitet ein neues Konzept zur Errichtung jüdischer Abteilungen in ethnologischen Museen, die „alle jüdischen Gebräuche erklären, um dem Antisemitismus zu entgegnen“. 1932 erklärt er: „Das aufgestellte Konzept thematisiert zum ersten Mal in der Geschichte volkskundliche Aspekte bei jüdischen Ritualgegenständen. Es zeigt die Entwicklung verschiedener Typen: beginnend mit den primitiven Juden, besonders aus den östlichen Gebieten, mit Vergleichen aus allen Teilen der Welt. Gleichzeitig zeigt es jüdisches Leben in Festen, Kleidung und Spielen etc.“ Einige der von ihm vermittelten Judaica werfen Fragen auf: Sind es speziell für Ausstellungen gefertigte Modelle jüdischer Kultgegenstände , Kopien, Fälschungen?

1937 emigrierte Julius Carlebach in die USA und ließ sich in New York nieder, wo er zum bedeutenden Galeristen u.a. für indigener Stammeskunst wurde. Er starb 1964.

 

Einheimische Führer, Übersetzer, lokale Informanten sind diejenigen, die bei Expeditionen und Reisen häufig die eigentliche Arbeit leisteten, in der Regel in europäischen Berichten jedoch nicht vorkommen. TOBIAS MÖRIKE geht der Frage nach, was das für das Wissen über und Präsentationen von Sammlungen bedeutet: „In Hinblick auf Sammlungen geht die Forschung stark von einer europäischen Agency aus, die durch Raub, Kauf und Plünderung, Dinge und Praktiken dekontextualiserte, ihre eigenen Kategorien ex situ im Museum schuf, um andere Kulturen abgegrenzt zu repräsentieren. Wie können Wissensmittler und Aushandlungsprozesse über Sammelwürdigkeit, Bedeutung und Preise sichtbar gemacht werden?“ Tobias Mörike befragt österreichische Expeditionen wie z. B. die der Ethnologin Anna Hohenwart-Gerlachstein, die 1962 zusammen mit den ägyptischen Kollegen Kawthar Rassoul und Mohamed Riad und den nubischen Lehrern Hussein Abd El Galil ʿAli und Aziz Abel Wahb Suliman während der Umsiedlungen durch den Bau des Assuan Staudamms 128 Objekte sammelte, die das Dorfleben dokumentieren; oder die von Peter Schienerl, der von 1971 bis 1979 ägyptischen Schmuck in Kairo dokumentierte und sich auf Erklärungen lokaler Schmiede verlässt.

 

Die Arbeit der Menschen vor Ort während eines Expeditionsgeschehens nimmt auch MICHAEL GUERIKE in den Blick. Sein Fokus liegt auf dem lokalen Handel und Wissenstransfer während der Pangwe-Expedition (1907 bis 1909), die im Lübecker Auftrag eine Sammlung zu der heute mit Fang bezeichneten ethnischen Gruppe zusammenträgt. Unter Leitung von Günther Tessmann findet Sammeln und Forschen in eigens errichteten Stationen statt, in denen nicht nur ethnographische Objekte in einer Anzahl zusammengetragen und systematisch erfasst werden, die als herausragend gilt, gesammelt wird auch umfangreich naturkundliches Material. Der Ethnologe Bernhard Angermann schwärmt 1912, man könne die von Tessmann zusammengebrachte ethnografische Sammlung „ohne Übertreibung als eine der besten Sammlungen bezeichnen, die jemals aus Afrika in ein deutsches Museum gekommen sind, weil sie ganz systematisch und nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten angelegt ist und von der gesamten Kultur der Pangwe ein anschauliches uns erschöpfendes Bild gibt“. Allein das als erschöpfend gefeierte Bild der Pangwe muss bezweifelt werden, denn, so Michael Guerike: „Pangwe ist lediglich die Bezeichnung von Küstenbewohnern für alle, die nicht an der Küste wohnen.“ Vor allem aber ist es nicht Tessmann allein, der sammelt, präpariert und auch jagt; für eine Forschungsstation hat der Referent die Namen von 46 einheimischen Mitarbeitern recherchiert. Forschungsstationen sind keine isolierten Wissenschaftsbereiche, sie sind rege Handelsplätze, an denen nicht nur Nahrungsmittel, sondern ebenfalls in großem Ausmaß Tiere, Pflanzen und Gegenstände sowie lokales Wissen, die Teile der ethnographischen, zoologischen und botanischen Wissensbestände werden, die Besitzer wechseln. Selektionen von Wissen und Objekten liegen auf der Hand. Was Tessmann, der einerseits akribischer Sammler ist, andererseits aber auch mit Zwang und Drohungen agiert, an Widerstand und Desinformation provoziert, steht als Frage im Raum.

 

Nachgerade prägend ist der Einfluss des Gul Mohamad, der 1962 von den Ethnologen Friedrich Kußmaul und Peter Snoy für die Stuttgarter Badakhshan-Expedition als „Koch-Diener“ (Expeditionstagebuch Peter Snoy) angeheuert wird. Während der Expedition durch den afghanischen Hindukusch werden 1050 Artefakte gesammelt, außerdem entstehen zahlreiche Ton- und Filmaufnahmen sowie 15 000 Fotografien – ein Sammlungs- und Forschungsprozess, der ohne die Mitarbeit afghanischer Assistenten, Köche, Dolmetscher, Mittelsmänner, Führer nicht hätte bewältigt werden können, wie MARINA HEYINK darlegt. In Dokumenten, die zur Veröffentlichung bestimmt sind, werden diese Leute nicht erwähnt.

Ihr Hauptaugenmerk legt Martina Heyink auf Gul Mohamad (bei Snoy auch „Mahamad“), den die Expeditionsleiter zunehmend mit weiteren Aufgaben betrauen und der mutmaßlich gerne die wachsende Rolle annimmt. Er steht für die ambivalente Stellung, die afghanische Akteur:innen bei der Badakhshan-Expedition einnehmen. Ist am 5. Oktober 1962 von ihm noch als „Koch-Diener“ die Rede, schildert ihn Snoy vier Tage später als einen Landsmann Interpretierenden. Am 27. Januar 1963 hält Snoy fest: „Diese Geschichte habe ich durch unseren Koch Gul Mohamad erfahren, der sich als eifriger Detektiv bewährte.“ Am 1. April 1963 heißt es: „Gul, der sich Mühe gibt als Sahib und Soldat, der für mich verantwortlich ist, aufzutreten […] versteht es, sich ins rechte Licht zu setzen und ließ sich […] als Dolmetscher titulieren“. Dann kommt es zum Bruch. Eintrag Peter Snoy vom 5. Juli 1963 über Gul Mohamad: „Zucker verbraucht, Tee verbraucht, Mehl ging zur Neige. Petroleumverbrauch übermäßig. Fett und Reis nahezu verbraucht. Eine Büchse Bonbons verschwand. Für 500 Afs Stoff, den mir der Hakim von Jurm geschickt hat, wanderte als Geschenk zu Lal Beg. Außerdem bestätigte eine Nachforschung, daß Gul Opium verkauft hat. [Dolmetscher] Palwal […] erzählte noch einiges über Guls Intrigen. So entließ ich Gul am 25. [Juni] vormittags.“

 

Den Austausch zwischen Indigenen und europäischen Nationen in Nordamerika schildert NIKOLAUS STOLLE und betrachtet am Beispiel indigener Plains und Präriebewohner neben Handel und Gabentausch als ältester, friedlicher Austauschform materieller Güter und Ideen sowie gewaltsamer Formen der Aneignung eine weitere Form der Aneignung: Mit der wachsenden europäischen Nachfrage nach kunstvoll gefertigten Objekten bedienen indigene Hersteller:innen dieses Bedürfnis und treten damit aktiv in den internationalen Handel ein. Zugleich kommt es zu intertribalen, gewaltsamen Formen von Aneignung, wie sowohl europäische Schriftquellen, als auch indigene Dokumente (gemalt oder eingeritzt an Bäumen, tätowiert auf der eigenen Haut oder gemalt auf Leder) spätestens ab dem 17. Jahrhundert belegen. Diese Kriegstrophäen gelangen schließlich auch in den Handel mit Europäern. Nikolaus Stolle stellt dies anhand bemalter Bison- und Hirschroben sowie speziell für Europäer entwickelte Lederhemden dar, die ab dem 18. Jh. Teil des internationalen Marktes werden.

 

„Wer hat bei wem gekauft, mit wem getauscht, wen beraubt?“, fragt die von der Mission EINEWELT in Neuendettelsau eingerichteten Projektstelle Archiv MEW, die HEIDE LIENERT-EMMERLICH vorstellt. Untersucht wird ein Teil des Geschehens in Papua-Neuguinea während der deutschen und australischen Kolonialzeit bis zwei Jahrzehnte nach der Unabhängigkeit 1975. In dieser Zeit gelangen Kulturgüter aus dem Huongolf in der Morobe Province in europäische Sammlungen. Die Schnitzer von Tami nutzen die Neuendettelsauer Missionsstation Pola mit der kaiserlichen Post bei Finschhafen als Umschlagplatz für ihre Handelsware ebenso wie der koloniale Ethnographica-Handel. Eine gezielte Produktion für den Export, mit einer künstlerischen Anpassung an den europäischen Geschmack, ist aus dem Huon Golf für die Native Marketing and Supply Service (NAMASU) in den 1960er Jahren zu beobachten. Heide Lienert Emmerlich stellt Handelswaren von Tami in der Sammlung des ehemaligen Museums für Völkerkunde der CAU Kiel (1884), der völkerkundlichen Sammlung der Naturhistorischen Gesellschaft e.V., Nürnberg (1904) und von Mission EineWelt (1924), Neuendettelsau zur Kolonial- und Missionsgeschichte von 1884 bis in die Gegenwart vor.

 

Mit China zur Zeit der späten Ming- und frühen Quing-Dynastie (spätes 14. bis 17. Jahrhundert) präsentiert LUKAS C. SAUL einen selbstbewussten Handelspartner Europas. Agieren die Europäer während der Neuzeit in Afrika, Amerika und anderen asiatischen Ländern aus der Position der Stärke und einer vermeintlichen oder tatsächlichen technischen Überlegenheit heraus, stehen sie in China einem Handelspartner gegenüber, der nur wenig Interesse an europäischen Erzeugnissen zeigt und zugleich über eine hervorragend ausgebaute Exportwirtschaft verfügt. Exportiert werden insbesondere Waren aus Steingut und kostbares Porzellan, das chinesische Handwerker noch im Monopol herzustellen vermögen und an die Wünsche und Bedürfnisse der jeweiligen Käufer anpassen.

 

OLAF GÜHTHER stellt drei Terrakotta-Figuren aus Bengalen zu Diskussion, die zu einem Konvolut aus dem Britischen Kolonialreich Indien stammen. Es sind zwischen 1890 und 1920 entstandene Figurinen aus Tonwicklungen um Metallgerüste, in naturalistischen Farben bemalt, mit Haaren aus Schafwolle oder Jute und Kleidung aus Stoff versehen: ein Babu (gebildeter, wohlhabender Bürger mit Wurzeln in der alten Elite), ein Jute-Händler (gebildeter, wohlhabender Bürger aus dem Händlerspektrum) und ein Hindu als Vertreter der armen Bevölkerung. Babu und Jute-Händler sind gute Schuhe aufgemalt, vor allem die des Babu schreibt Günther der Mode zu, wie sie zeitgleich in London und Paris aufkommt. Lebensgroße Figuren dieser Art sind von traditionellen Festen bekannt. Günther stellt Thesen und Gegenthesen auf. These 1: Verzwergung der Terrakottafiguren ist Zeichen einer kolonialen Indienstnahme indischer Selbstrepräsentation. Gegenthese 1: Figuren sind reisende Repräsentanten einer indischen Wirklichkeit. These 2: Stereotypisierung und Konzeptualisierung einer kolonisierten Bevölkerung? Gegenthese 2: Figuren sind Momentaufnahmen einer indischen Wirklichkeit.

 

Echt oder falsch? NINA WAGENKNECHT hat sich angesichts der 338 Aegyptica in der Lübecker Sammlung Kulturen der Welt auf Spurensuche begeben. Ihr Ergebnis: 26 Objekte (= 8 Prozent) sind als Fälschungen zu betrachten. In ihrem Vortrag skizziert sie deren Erwerbshintergründe und fragt nach dem Rollen im kolonialen Objekttransfer, der am Ende des 19. Jahrhunderts mit dem Beginn des Massentourismus in Ägypten einsetzt.

„Geschenkt, gekauft, getauscht = unbedenklich?“, fragt BERNHARD WÖRRLE und zeigt anhand von Fallbeispielen, dass die Bewertung von Transaktionen im kolonialen Kontext vielfach auch im günstigen Fall schwierig ist. Da wäre eine Feine Matte aus Deutsch Samoa, die dem Kommando eines Kreuzergeschwaders 1909 als besonderes Geschenk „mit der Bitte, sie Eurer Majestät zu übergeben und um Allergnädigste Entgegennahme zu bitten“ übergeben wird – unbedenklich? Andere Objekte wechseln unter Verwendung von Fehlinformationen oder unter Ausnutzung des Machtgefälles die Besitzer.

 

MARTIN NARDAZINSKI geht gestalterischen Annäherungen an den deutschen Kolonialmarkt auf den Grund, die er anhand ethnographischer Objekte aufzeigt, die das Ehepaar Alfred und Hedwig Kirchhof im einstigen Deutsch-Kamerun zusammenträgt. Die Merkmale sind augenfällig. Veränderungen sind etwa bei der Fertigung von Paddeln festzustellen, die einst kunstvoll geschnitzt wurden, nun schlicht belassen mit ursprünglich nicht verfügbarer und nun importierter Ölfarbe in kaiserlichem Schwarz-Weiß-Rot gefasst sind. Als Bemalung zeigen die Paddel zudem Eiserne Kreuze. Durch den Kontakt mit europäischen Akteur:innen wandelt sich auch die immaterielle Kultur: Kaisers Geburtstag beeinflusst als Datum traditionelle Feste. Offen bleibt auch hier die Frage, unter welchen Umständen die Objekte genau erworben wurden und welche Rolle indigene Händler bzw. bisher nicht bekannte oder genannte Mittelsmänner spielen.

 

„Gleich nach Ankunft des Schiffes [Chuuk-Atoll] waren viele Eingeborene, darunter auch die einflussreichsten Häuptlinge der Insel Uola an Bord gekommen und hatte sich ein reger Tauschhandel zwischen den Eingeborenen und dem Schiff entwickelt.“ GODWIN KORNES und STEFANIE SCHIEN dokumentieren anhand eines Zitats des Kapitäns Otto von Burski, wie Indigene Ozeaniens das Erscheinen der Kolonialherren in ihren privaten Bereichen verhindern. Auch was zum Tausch oder Kauf geboten wird, bestimmen sie mit den Waren und Objekten, die sie mit an Bord bringen. Das Handeln an Bord der Kolonialherren ist offenbar Usus, denn weiter heißt es bei von Burski: „Mit Tagesanbruch wurde am folgenden Morgen Anker gelichtet und kurze Zeit darauf zwischen der Insel Toloas und Fefan geankert. Auch hier kamen die Eingeborenen sofort an Bord um Tauschhandel anzufangen und es erschienen die Häuptlinge der Insel Uman, Fefan und Toloas, um dem Schiff ihre Aufwartung zu machen.“

Die S.M.S. Cormoran war ein kleiner Kreuzer der Kaiserlichen Marine, dessen Aufgabe in Ozeanien in der Durchsetzung des imperialen Herrschaftsanspruchs des Deutschen Reichs bestand, vor allem in Form sog. Strafexpeditionen, dessen Besatzungen jedoch auch Forschungsreisen durchführten und Sammlungen zusammentrugen.

 

Fazit

Gibt es eine indigene Agency? Gibt es sie nicht? Bei der abschließenden Diskussion gehören diese Fragen zu den vielen, an denen sich die Ethologie abarbeitet. Festgehalten wird von den Konferenzteilnehmer:innen u.a. dies: Es gibt eine Vielzahl von Hinweisen auf Indigene Agency, die Vorträge haben eine eindrucksvolle Bandbreite gezeigt. Andererseits haben sie einmal mehr auch dokumentiert, dass die kolonialen Täter am längeren Hebel sitzen. Aber: Eine Schwarz-Weiß-Reflexion im Sinne von Täter-Opfer-Narrativen spricht Menschen den Versuch ab, das Heft des Handelns in eigenem Interesse in die Hand nehmen zu wollen. Zitat aus der Schlussdiskussion: „Die Quellen sind fast ausschließlich europäisch. Daraus jedoch zu schließen, es gäbe keine Agency, das ist kolonial.“

 

Konferenzübersicht

Sarah Fründt, Deutsches Zentrum Kulturgutverluste (Magdeburg): Grußwort

Dr. Lars Frühsorge (Lübeck): Komplexität kolonialer Objekttransfers im Spiegel der Lübecker Völkerkundesammlung (seit 28. März 2024 Sammlung Kulturen der Welt)

Prof. Dr. Brigitta Hauser-Schäublin (Basel): In den Fängen des kapitalistischen Eigentumsbegriffs. Eine Alternative

Dr. Hilke Thode-Arora (München): Europäische Nachfrage, pazifische Strategien: Wie „authentisch“ sind vielgesammelte Objekte?

Dr. Patrick Felix Krüger & Dr. Knut Martin Stünkel (Bochum): Die chinesische Künstlergruppe „Ars Sacra Pekinensis“ – oder: Wie vollzieht sich metapherngeleiteter Religionskontakt im Bild?

Dr. Claudia Augustat (Wien): Sakrale Musikinstrumente aus dem Amazonasgebiet im Weltmuseum Wien: Sind sie heilig?

Dr. Rainer Hatoum (Braunschweig): Aus der Welt der Grautöne – Reflexionen zur Geschichte musealer Medizinbündel, Ritualgesänge und Heilritualmotive der Navajo

Dr. Claudia Kalka (Lübeck): Ich male was, was Du nicht siehst: Subversive Botschaften in harmlosem Gewand

Leonie Maurer (Heidelberg): Unveräußerlichkeit und Absenz von Objekten als Beleg indigener Widerständigkeit am Beispiel der vavara-malangan aus Neuirland

Bettina von Briskorn (Bremen): Schädelsammeln in „Deutsch-Neuguinea“

Ilja Labischinski (Berlin): Königliche Insignien des Togbe Nyavor Dagadu II aus Kpando im Ethnologischen Museum Berlin

Dr. Sören Groß (Jena): Julius Carlebach (1909–1964) – ein internationaler Vermittler von Judaica mit volkskundlichen Aspekten

Dr. Tobias Mörike (Wien): Wissensmittler*innen als Sammlungsexperten – „ausgehandelte“ Sammlungen im Weltmuseum Wien

Michael Guerike (Lübeck): Forschungsstationen als Handelszentren. Lokaler Handel und Wissenstransfer während der Lübecker Pangwe-Expedition

Marina Heyink (Berlin): „Diener“ oder „Sahib“? Gul Mohamad und die Stuttgarter Badakhshan-Expedition

Dr. Nikolaus Stolle (Stuttgart): Bemalt, geschenkt, geraubt und gehandelt. Über Bisonroben und Lederhemden der indigenen Plains- und Prairiebewohner seit dem 18. Jahrhundert

Heide Lienert-Emmerlich (Neuendettelsau): Tami Handelsware mit Fabrikationszeichen

Lukas C. Saul (Lübeck): Chinesische Keramikexporte und Auftragsarbeiten für den europäischen Markt in der späteren Ming- und frühen Qing-Dynastie

Olaf Günther (Delmenhorst): Terrakotta-Figuren aus Bengalen im Nordwestdeutschen Museums für IndustrieKultur

Nina Wagenknecht (Göttingen): Auf Spurensuche: Perspektiven auf die Fälschungen der ägyptischen Objekte der Lübecker Völkerkundesammlung

Dr. Bernhard Wörrle, München Geschenkt, gekauft, getauscht = unbedenklich? Zur Einordnung kolonialer Provenienzen am Deutschen Museum, München

Martin Nadarzinski (Detmold): Von der Küste bis ins Grasland – Spuren indigener Agency in der Sammlung Alfred und Hedwig Kirchhof

Dr. Godwin Kornes & Stefanie Schien (Freiburg): Sammlung an Bord? Beispiele und Formen des Objekttransfers im Umfeld der S.M.S. Cormoran